Ein altes Ehepaar nach drei Jahren Trennung wieder vereint

Im Esszimmer mit dem großen Tisch und der Eckbank hängt ein Foto von Dora und Heinz S. Beide sind über 90 Jahre alt. Das Bild zeigt das Ehepaar in einem sehr persönlichen Moment. Sie sind einander ganz zugewandt, neigen die Köpfe zueinander und sehen sich dabei tief in die Augen. Die Frau fasst ihren Mann mit der linken Hand zärtlich ans Kinn und lächelt glücklich. Sie sitzt im Rollstuhl. Unter das Bild hat Heinz S. von Hand notiert: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Das Bild hat eine Geschichte. Sie beginnt am 18. Oktober 2012. Am Tag zuvor starb der Ehemann der jüngsten Tochter von Viktoria S. Die 86-Jährige erleidet einen Schlaganfall. Er lähmt ihre rechte Körperhälfte völlig, auch die Sprechorgane sind davon betroffen. Frau S. versteht zwar alles, kann aber nicht klar sprechen. Sie hat eine Sprach-Apraxie, sagen die Logopäden. Während dem Krankenhausaufenthalt und der langen Rehaphase wird das Haus der Familie pflegegerecht vorbereitet. Als Frau S. schließlich kommt, ist alles organisiert und eingerichtet: ein Pflegedienst ist beauftragt, im Wohnzimmer stehen ein Pflegebett und ein Lifter, die Badewanne hat einen Lifter, der Toilettensitz ist erhöht, und ein Treppenlift überwindet die Stufen zum Hauseingang.

Wegen der Sprachstörungen hat das Gericht die älteste Tochter als Betreuerin und den Ehemann als Ersatzbetreuer für die pflegebedürftige Dora S. bestellt. Eine aus damaliger Sicht einvernehmliche und gute Regelung.

Das Ehepaar S. hat ein intaktes soziales Umfeld mit vielen langjährigen Freunden und Bekannten. Vor allem Helga F., beste Freundin von Dora S., die eine Wohnung im Haus hat, gehört seit Jahrzehnten zur Familie. Die kinderlose Dame hat die beiden Töchter aufwachsen sehen und hatte bis vor der Krankheit von Dora S. ein so gutes Verhältnis zur älteren Tochter, dass sie diese sogar für den Fall der eigenen Bedürftigkeit bevollmächtigt hatte. Frau F. ist rund 14 Jahre jünger als das Ehepaar S. Schon vor dem Schlaganfall ihrer Freundin Dora war es für sie selbstverständlich, sich mit um den Haushalt, den Garten und den Hund der beiden zu kümmern, sagt sie.

Nach der Reha freut sich Frau S., wieder zu Hause zu sein. Die Versorgung klappt zunächst, doch es kommt zu Spannungen in der Familie. Als Fehlgriff und großes Ärgernis erweisen sich die von der Tochter organisierten osteuropäischen Haushaltshilfen. Zuerst kommt ein Mann, er ist keine Hilfe, nicht zuletzt deshalb, weil er wegen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Familie nicht weiß, was er überhaupt darf und soll. Anschließend schickt die Agentur eine energische Frau. Es stellt sich heraus, dass sie ein schweres Alkoholproblem hat. Heinz S. und Helga F. schildern verschiedene bühnenreife Episoden mit dieser 24-Stunden-Kraft.

Werden der Tochter die ständigen Beschwerden des Vaters und Helga F. zu viel? Sie bestellt ihren Hausarzt Dr. G. während der Abwesenheit des Vaters zu einem Hausbesuch bei der Mutter. Am 9. April 2013 wird Dora S. mit Verdacht auf Lungenentzündung in ein kleines Krankenhaus gebracht. Es ist nicht die größere Klinik in der nächstgelegenen Stadt. Nach zwei Tagen wird die Patientin überraschenderweise als gesund entlassen ­– in ein Freiburger Pflegeheim. Es sei nur für eine Übergangszeit, eine Kurzzeitpflege, heißt es. Doch offensichtlich hat die Tochter längst geregelt, dass ihre Mutter dauerhaft in dieser Einrichtung bleiben soll.

Die jüngere Tochter versucht sich zunächst aus allem heraus zu halten. Als sie jedoch erfährt, dass ihre Mutter im Heim bleiben soll, schmiedet sie gemeinsam mit dem Vater und den anderen Helferinnen Pläne, wie man sie wieder nach Hause holen kann. Nachdem das misslingt, zieht sie sich zurück.

Den Protest des Vaters und weiterer Personen aus dem persönlichen Umfeld der Mutter ignoriert die Tochter. Sie blockt alle Kontaktversuche ab, legt den Hörer auf, verweigert die Annahme von Briefen.

Weil Frau S. vor Heimweh oft weinte, vor allem nach dem Besuch des Ehemannes, wird dieser beschuldigt, seine Frau unter Druck zu setzen. In einem Schreiben ans Gericht erklärt die Heimleiterin, dass Heinz S. einen schädigenden Einfluss auf seine Frau ausübe, ebenso wie Helga F., weshalb man sich verpflichtet sehe, die Bewohnerin vor diesen beiden Angehörigen zu schützen. Sie würden sich an keine Regeln halten und brächten der Bewohnerin Rohkost und anderes mit, was sie wegen einer Schluckstörung nicht essen könne. Einmal habe Frau S. sogar wegen einer Aspiration ins Krankenhaus gemusst, wo eine, so wörtlich: „Verklebung der Lungenklappen“ festgestellt worden sei.

Die Heimleitung spricht gegen Herrn S. ein Hausverbot aus. Sieben Monate kann er seine Frau nicht sehen. Alle Bemühungen aus dem Bekanntenkreis, sämtliche Appelle, Briefe, Bitten, Telefonate und Gespräche führen zu nichts. Auch Frau F. bekommt Hausverbot, nachdem sie ihrem Unmut über die Haltung der Heimleiterin Luft gemacht hatte.

Mit Nachdruck sucht Heinz S. den Rechtsweg. Es gelingt ihm schließlich, dass seiner Tochter die Betreuung der Mutter entzogen wird. Allerdings bleibt die Tochter weiterhin als Verfahrenspflegerin beteiligt. Das Gericht bestellt eine Berufsbetreuerin. Diese übernimmt offenbar rasch die Ansicht der Tochter und gibt der Heimleiterin Rückendeckung bezüglich der Besuchseinschränkungen und Verbote gegenüber dem Ehemann, Helga F. sowie weiteren Angehörigen. Dora S.s dringendster Wunsch, wieder in ihr eigenes Haus zurückzukehren, scheint unter dieser Betreuerin aussichtslos.

Mehr als drei Jahre sind inzwischen vergangen. Das Hausverbot gegen Heinz S. wurde aufgehoben. Allerdings mit Auflagen von Seiten des Pflegeheims: nicht auf ihrem Zimmer, sondern im Gemeinschaftsraum – und nur in Anwesenheit von Pflegepersonal darf sie den Ehemann empfangen. Auch allen anderen Besucherinnen, die sich für einen gemeinsamen Lebensabend des alten Ehepaares einsetzen, ist es untersagt, sich alleine mit Dora S. in deren Zimmer aufzuhalten. Mitarbeiter sind angewiesen, die Besucher im Auge zu behalten. Nur der älteren Tochter ist es gestattet mit der im Rollstuhl sitzenden Bewohnerin das Heimgelände zu verlassen. Offenbar fürchtet man, dass Frau S. nach Hause „entführt“ werden könnte.

Die anhaltenden Proteste des Ehemannes, der sich einen zweiten Anwalt genommen hatte, nachdem der erste kein Fortkommen mehr sah, führten zu einem erneuten Betreuerwechsel. Seit Mai 2016 ist ein Herr M. der gerichtlich bestellte Betreuer. Als er sich seiner Betreuten vorstellt, hat diese fast schon jede Hoffnung aufgegeben, jemals aus dem Heim herauszukommen. Auf die Frage, welchen Eindruck der neue Betreuer auf sie gemacht habe, winkt Frau S. resigniert ab. Auch dieser Betreuer übernimmt die Position seiner Vorgängerin, der Heimleiterin sowie der Tochter, die allem Anschein nach den lebenslänglichen Verbleib der inzwischen 91-jährigen Dora S. im Pflegeheim beschlossen haben. Sie halten es für nicht verantwortbar, sie nach Hause gehen zu lassen.

Astrid St., eine langjährige Freundin der Familie S. sieht im Oktober 2016 in der Fernsehsendung „Report Mainz“ einen Beitrag, in dem der Pflege-Selbsthilfeverband einer Dame, die gegen ihren Willen in einer Altenpflegeeinrichtung festgehalten wird, hilft, nach Hause zurückzukehren.  Astrid St. wendet sich an den Pflege-Selbsthilfeverband e.V. Herr S., Frau F. und Frau St. werden Mitglied in diesem Verein.

Nach zahlreichen Telefonaten und der Sichtung von Unterlagen konfrontiert die Vorsitzende des Pflegeselbsthilfeverbandes, Adelheid von Stösser, die Heimleiterin und den Betreuer mit den von ihnen verursachten Rechtsverletzungen gegenüber Frau S. In ihrem Schreiben vom 15. November verweist Frau von Stösser auf das Betreuungsrecht, das die hier praktizierte Form der Entmündigung ausdrücklich nicht vorsieht. Sie fordert die sofortige Aufhebung der Besuchseinschränkungen, die einen unzulässigen Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Bewohnerin/Betreuten darstellen. Daraufhin wird dem Ehemann und anderen Besucherinnen der Aufenthalt im Zimmer von Frau S. gestattet. Im Übrigen erklärt die Heimleiterin, sich an die Absprachen mit dem Betreuer zu halten. Der jedoch hält sich bedeckt und reagiert auf das Schreiben des Pflege-Selbsthilfeverbandes zunächst gar nicht.

Am 22. November fährt Frau von Stösser nach Breisach, um sich vor Ort ein Bild von der Situation im Hause S. zu machen und mit den Beteiligten die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Sie ist entschlossen, Dora S. am nächsten Tag nach Hause zu holen. Nach den Erfahrungen der Vergangenheit sind alle Freunde des Ehepaares skeptisch über die Erfolgsaussichten. Am Mittwoch, dem 23. November, gegen 10.30 Uhr betreten Adelheid von Stösser und Astrid St. das Freiburger Pflegeheim. Frau S. ist nicht in ihrem Zimmer. Frau St. meint zu wissen, dass sie einen Friseurtermin habe, und so suchen beide zunächst dort nach ihr. Schließlich finden sie die Bewohnerin im Aufenthaltsraum. Dora S. zeigte sich erfreut über den unerwarteten Besuch ihrer Freundin. Die Besucherinnen begleiten die Bewohnerin in ihr Zimmer und schließen die Tür. Dort angekommen, erklärt Astrid St., dass Adelheid von Stösser gekommen sei, um sie nach Hause zu begleiten. Frau S. strahlt und kann es kaum fassen. Zwar weiß sie, dass etwas geplant ist, aber nicht wann und wie. Wenige Tage vorher haben Freundinnen ihr ein Kündigungsschreiben vorgelesen, dem sie freudig zugestimmt und welches sie ohne Zögern mit der linken, intakten Hand unterschrieben hat. Jedoch wirklich daran glauben, dieses Heim so einfach verlassen zu können, kann sie nicht. Bis auf wenige wichtige Sachen packen sie nichts ein.

Nun kommt der gefürchtete Teil, die Begegnung mit der Heimleiterin. In ihrem Büro ist sie nicht. Astrid St., die sich im Heim auskennt, schiebt Viktoria S. im Rollstuhl Richtung Ausgang. Schon von weitem sehen sie die Heimleiterin. „Was soll das werden?“, fragt diese, als die drei vor ihr stehen. Sofort streckt die alte Dame im Rollstuhl der verdutzten Heimleiterin das Kuvert mit der Kündigungsmitteilung entgegen. „Das geht nicht. Sie können hier nicht raus. Ich muss erst den Betreuer benachrichtigen“, sagt die sichtlich erregte Heimleiterin. „Der Betreuer hat darüber nicht zu bestimmen. Frau S. kann und darf das ohne Einwilligung des Betreuers selbst entscheiden. Das ist ja hier kein Gefängnis – oder?“, entgegnet Frau von Stösser. „Übernehmen Sie die Verantwortung?“ will die Heimleiterin dann wissen. „Selbstverständlich! Sie dürfen alle an mich verweisen, die mit dem Auszug von Frau S. ein Problem haben“, beruhigt Frau von Stösser. Damit ist die Auseinandersetzung beendet. Gegen 11.00 Uhr verlässt Viktoria S. mit ihren Begleiterinnen das Pflegeheim, in dem sie mehr als dreieinhalb Jahre gegen ihren Willen festgehalten wurde. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Immer wieder greift sie nach der Hand von Adelheid von Stösser. „Heim! (Nach Hause)“, ruft sie laut und deutlich und lacht dabei. Ihre hellen Augen blitzen.

Kurze Zeit später kommt das bestellte, rollstuhlfähige Taxi und bringt sie nach Hause. Mit dem Treppenlift geht es nach oben ins Haus. Große Freude herrscht dort. Lange Umarmungen, heftiges gegenseitiges Drücken. Es gibt viel zu erzählen. Doch wo ist ihr Mann? „Beim Ohrenarzt“ sagt Helga F. Auch eine weitere Freundin, Christine B. ist gekommen, eine pensionierte Ärztin. Sie hat mit dem Kündigungsschreiben und einem Schreiben ans Gericht geholfen. Sie bestätigt, dass Frau S. orientiert ist: „Ich fand es würdelos, wie man diese Frau behandelt hat. Ihr wurde eine Demenz angedichtet, obwohl jeder, der sich mit ihr befasst, erkennen kann, dass sie klar bei Verstand ist.“

Schließlich kommt Heinz S. in Begleitung von Isabella Str., eine weitere aktive Unterstützerin des Ehepaares Dora und Heinz S. Auch sie hat Anteil, daran, dass die alten Leute jetzt wieder zusammen sind. Schon von weitem steckt Dora ihrem Heinz den gesunden Arm entgegen. Der energische Mann kann nicht so schnell, er geht auf Krücken – die Beine, sagt er, fast entschuldigend. Und dann endlich sitzen sie sich gegenüber, in dem Esszimmer mit dem großen Tisch und der Eckbank. Sie umarmen und küssen sich. Tränen der Freude fließen. Wie auf dem Foto über ihnen neigen sie die Köpfe zueinander, sehen sich lange in die Augen. „Ich hab’s Dir versprochen, ich geb’ nicht nach“, sagt Herr S. leise zu seiner Frau.

Harald Spies

2 Kommentare

  1. Sehr traurig, kein seltener Fall, aber mit einem glücklichen Ende. Was wäre gewesen, wenn die pflegebedürftige Frau S. gestorben wäre, ohne Hilfe von engagierten Menschen – neben ihrem Ehemann?
    Leider bin ich selbst als Angehörige von einem ähnlichen Fall betroffen.
    Aber bislang noch ohne HappyEnd.

    Mit Besten Grüßen

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