Warum sich der Pflege-Notstand verschärft.    

Schw. Margareta (verstorben 2016) ehem. Op-Schwester, Schulschwester, Leiterin einer Sozialstation und eines ambulanten Hospiz.

Vor mir liegt ein ganzseitiger Zeitungsartikel vom 13. Oktober, mit der Überschrift: „Der Königsweg aus dem Pflegenotstand.“ In diesem erklärt der  Koblenzer Pflegewissenschaftler Prof. Frank Weidner die Privatisierung sowie eine zu geringe Akademisierung der Pflegeberufe zur Hauptursache.  Aus seiner Sicht führt der einzige Weg aus dem Pflegenotstand über die Professionalisierung.  Von dem erklärten Ziel einer zwanzigprozentigen Akademisierung, die in anderen Ländern längst umgesetzt sei,  habe Deutschland gerade mal ein bis zwei Prozent erreicht.

Als nicht akademisch ausgebildete Krankenschwester und Lehrerin für Pflegeberufe, die die Entwicklung in der Pflege seit 1970 aus nächster Nähe erfahren hat, halte ich die Akademisierung nur dann für einen Lösungsweg, wenn die Studiengänge ganzheitlich ausgerichtet wären. Bislang dienen diese allenfalls dem Zweck, dass studierte Pflegekräfte innerhalb des schulmedizinischen Systems einen größeren Eigenständigkeitsbereich erhalten. Eine Feststellung, die nicht nur auf Deutschland zutrifft, sondern ebenso in Ländern mit einer pflegewissenschaftlichen Tradition, wie den USA oder  England. In diesen Ländern findet man meist folgende Dreigliederung: Ganz oben in der Hierarchie die akademischen Pflegekräfte, die Teile medizinischer Maßnahmen übernehmen sowie Leitungsaufgaben. In der Mitte die schulisch qualifizierten – vergleichbar mit der 3-jährigen Pflegeausbildung bei uns. Unten, an der Basis bzw. an den Pflegebetten, die geringfügig qualifizierten, Man könnte auch sagen: Je geringer die Qualifikation, desto größer der Kontakt zum Kranken. Die körperliche Pflegearbeit wird zunehmend  Hilfskräften überlassen und für die menschlichen Belange  gibt es in den Heimen extra Betreuungskräfte. In den Krankenhäusern kümmern sich die „grünen Damen“ ehrenamtlich um die Sorgen der Patienten. Das  Pflegepersonal hat hingegen für den geordneten Ablauf sämtlicher Untersuchungen und Behandlungen  zu sorgen. Schließlich sollten die Patienten nicht länger stationär bleiben, als über die Fallpauschale abgerechnet werden kann.

Unser Gesundheitswesen belohnt die, die den Kranken kränker machen. 

Vor der Einführung der Fallpauschalen seit 1994 blieben die Patienten so lange stationär, bis sie entweder stabil genug waren, um nach Hause entlassen werden zu können, oder ein Platz in der Reha frei wurde, oder sie gestorben sind. Heute sorgen Krankenhäuser für volle Pflegeheime.  Hinzu kommt ein Regelwerk, das die belohnt, die den Kranken kränker und den Pflegebedürftigen bedürftiger machen. Die Verschärfung der Problematik ist vor allem auf ein völlig falsches Anreizsystem zurück zu führen.

Würde die Geschäftemacherei mit der Krankheit und Pflegebedürftigkeit unterbunden und eine ergebnisorientierte Regelung eingeführt, hätten wir weniger Kranke und Pflegebedürftige, weniger Kosten und das Personal hätte genügend Zeit sich um sich um jeden individuell kümmern zu können.

Da die akademische Führungsriege dieses System bedient, ist sie Teil des Problems und trägt nichts zur Lösung bei.  Es ist dieses falsche Anreizsystem, das es Heimbetreibern wie auch privaten Kliniken ermöglicht,  die Behandlung und Pflege so zu organisieren, dass Gewinne erzielt werden können. Das meiste Geld wird heute mit sterbenskranken Menschen gemacht, die früher in Ruhe sterben durften.

Kann ein Pflegebedürftiger zu Hause sterben, entstehen der Krankenkasse im Quartal vor dem Tod durchschnittlich Kosten von 1.154 €, wird ein Pflegebedürftiger vor seinem Tod im Krankenhaus aufgenommen, kostet der Versicherte im selben Zeitraum durchschnittlich 11.042 €. (Quelle: DRK Pflegereport 2016)

Falsche und fehlende Vorbilder

Die Eigenständigkeit und das Selbstverständnis der Pflegenden hängt vor allem davon ab, wer meine Vorbilder waren/sind. Habe  ich in der Ausbildung menschlich engagierte Vorgesetzte erlebt, werde ich versuchen es ihnen gleich zu tun. Habe ich hingegen überwiegend gelernt, wie man es nicht machen sollte und dafür auch noch gute Beurteilungen bekommen, werde auch ich eher ein schlechtes Vorbild abgeben. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis war immer schon ein Problem. Auszubildende lernen oft nur theoretisch, wie es richtig wäre zu arbeiten.  In der Praxis wird von ihnen erwartet, dass sie es so machen, wie es ihnen dort vorgelebt wird.

Ich selbst hatte als junge Krankenschwester einen viel größeren Entscheidungs- und Handlungsspielraum als es Pflegende heute haben.  Und wir hatten  Vorbilder, die inzwischen leider ausgestorben sind. Noch gut erinnere ich mich an eine Situation, während meines Einsatzes als Krankenpflegeschülerin auf der Inneren Männerstation.  Es ging um einen Patienten, der offensichtlich im Sterben lag. Der  Stationsarzt war gerade dabei, für diesen Mann eine Darmspiegelung und weitere Maßnahmen anzuordnen, als die Stationsschwester (eine ältere Ordensschwester) das Dienstzimmer betrat. Sie schaute den unerfahrenen Assistenzarzt  an und stellte klar: „Junger Mann, dass ist doch wohl nicht ihr ernst. Sehen Sie nicht in welchem Zustand sich dieser alte Mann befindet? Ich rate Ihnen, beten Sie ein Vater unser für ihn. Da hat er mehr von. Was Sie vorhaben, das ist Quälerei, da machen wir nicht mit.“ Der Arzt schaute etwas betreten und lernte daraus.

Vor fünfzig Jahren, solange ist das jetzt her, war die Pflegeprofession eng mit den Orden verknüpft. Mit Ausnahme von Unikliniken befanden sich fast alle Krankenhäuser in konfessioneller Hand.  In Rheinland-Pfalz sind die Franziskanerinnen von Waldbreitbach, die heutige Marienhaus GmbH, der größte Träger.  Selbst in den wenigen Häusern unter der Fahne des DRK (Deutsches Rotes Kreuz), hatten die DRK-Schwestern das Kommando, nicht die Ärzte.  Gleiches gilt für die Malteser und Johanniter.  Ich möchte diese Zeit nicht schön reden, es gab auch hier viel Grund zur Klage.  Aber  die mangelnde Eigenständigkeit, die Frank Weidner auf fehlende akademische Professionalisierung zurückführt, war damals kein Thema.  Diese ist der Pflege im Zuge der „Verwissenschaftlichung“ eher abhanden gekommen. Denn diese verschärfte nicht nur die Kluft zwischen Theorie und Praxis, sie  hat den gigantischen Bürokratismus überwiegend verursacht.   Wen es interessiert, dem empfehle ich meinen Beitrag von 1986: „Die Pflege eines pflegebedürftigen Pflegemodells“.
Dabei waren die achtziger Jahre  insgesamt die wohl beste Zeit. An der Krankenpflegeschule in der ich bis 1985 tätig war, konnten wir unter fast 100 BewerberInnen, die 15 besten für einen neuen Kurs auswählen.  Darunter zunehmend auch junge Männer und Abiturienten. Denn in den siebziger Jahren hatten wir dafür gekämpft, dass die  Bezahlung und die Arbeitsbedingungen familienverträglich wurden.

Dieses Pflegesystem richtet sich selbst zu Grunde  

Wenn heute ein Großteil der Arbeitsverhältnisse in der Pflege – Teilzeitbeschäftigungen sind –  so lässt sich daraus schließen, dass nicht die Bezahlung das Problem ist, sondern die Belastung.  Immer mehr Patienten werden in immer kürzerer Zeit durchgeschleust.  Auch die Verweildauer in den Heimen hat sich von Jahr zu Jahr verkürzt.  Lag sie 2015 noch im Schnitt bei 3 Jahren, sterben neue Bewohner heute oft schon nach 3 Monaten. Hinzu kommt eine stetig steigende Pflegebedürftigkeit.  Benötigten vormals vielleicht 5 von 15 Bewohnern Hilfe beim Essen, sind es jetzt 10.  Eine Pflegekraft müsste für zwei arbeiten, um den Menschen halbwegs gerecht werden zu können.  Das empfinden viele auch so. Unzufrieden und frustriert gehen sie nach Hause.   Die Verweildauer im Beruf sank, trotz besserer Bezahlung,  von 8 auf 5 Jahre.  Seit Corona scheint kein Halten mehr. Höchststände bei den Erkrankungen des Personals, verstärken den Arbeitsdruck.   Wer eine Alternative sieht, kehrt der Pflege gleich ganz den Rücken.  Näheres dazu siehe Beitrag Altenpflege vor dem AUS  

Während der Corona-Zeit hat sich die deutsche Pflegewissenschaft in ihrem Elfenbeinturm verschanzt.   Auch ein Prof. Weidner hüllte sich in Schweigen. Nicht eine kritische Stellungnahme, zu keiner der umstrittenen und gefährlichen Corona-Verordnungen. Als Sprachrohr der größten Berufsgruppe im Gesundheitswesen hätten die führenden Köpfe in Pflegewissenschaft und Berufsverbänden,  ihren Einfluss nutzen müssen, sich öffentlich gegen Besuchsverbote von kranken und pflegebedürftigen Menschen auszusprechen. Sie hätten unsinnige Hygieneverordnungen wirksam in Frage stellen können. Stattdessen setzte man sich  für die Einführung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht ein.

Es gibt zu viele, die einen Nutzen aus den Strukturen ziehen und darum kein Interesse an grundlegenden Reformen haben.  Zu diesen Nutznießern gehören neben den Leistungsanbietern, die Pflegeprofessoren und Funktionäre. Also die gesamte Führungsriege. Sie hat das Regelwerk geschaffen und ist für die bedauerliche Entwicklung verantwortlich.

Adelheid von Stösser, Oktober 2023

Dieser Beitrag wurde in „Der Gesundheitsberater“, Heft 12/23 veröffentlicht.

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