Offensiv für Menschenrechte in der Pflege

Autor und Foto: Harald Spies

Wir Deutschen geben viel auf die Menschenrechte. Wir werden nicht müde, uns für politisch und rassistisch Verfolgte in und aus aller Welt einzusetzen. Das ehrt uns. Doch vor einem Menschenrechts-Skandal riesigen Ausmaßes hier im eigenen Land verschließen wir seit Jahrzehnten konsequent die Augen. In der Pflege werden alte kranke und pflegebedürftige Menschen vernachlässigt, misshandelt und verletzt. Ihre Grundrechte sind faktisch außer Kraft gesetzt, ihre Menschwürde wird systematisch missachtet. Die Situation ist bekannt, doch niemand fühlt sich verantwortlich. Das Problem existiert offiziell gar nicht. Der aktuelle UNO-Menschenrechtsbericht über Deutschland (2017) erwähnt die Situation von misshandelten, fixierten und vernachlässigten älteren und pflegebedürftigen Menschen mit keinem Wort.

Mit der Kampagne Rechtsoffensive für Pflegebetroffene  will die Pflegeethik Initiative Deutschland e.V. den Blick auf die Opfer des fehlgeleiteten Systems lenken und menschenwürdige Lebensbedingungen einfordern.  

Eine Chronik des Schreckens

Juli 1987. Unter der Überschrift: „Wir wollen nicht mitschuldig werden!“ veröffentlicht die Fachzeitschrift „Altenpflege“ Ausschnitte einer Rede von Günter Langkau. Der Vorsitzende des Deutschen Berufsverbands für Altenpflege sagt darin „Die Altenpflege ist eine aus den Fugen geratene Institution, die an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbei agiert.“

Im Januar 2019 schreibt der Journalist Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung: „Der Personalschlüssel in den Alten- und Pflegeheimen ist ein Verbrechen; Strafgefangene haben de facto mehr Rechte als alte und demente Menschen.“ Er fordert eine „Aktion SOS“ in der Pflege, um „leidlich verträgliche Verhältnisse herzustellen.“

Dazwischen liegen fast 32 Jahre, Hunderte Presseartikel, Fernsehreportagen und unzählige, ungehörte Hilferufe von Pflegebedürftigen alten Menschen, vergessen in den Pflegeheimen. Die Pflegeversicherung wurde eingeführt und immer wieder reformiert, auf Pflegekongressen wurden lange Reden gehalten – alles mit keinem oder minimalem Nutzen für die Pflegebedürftigen.

Fragen drängen sich auf: Wie konnte es soweit kommen? Warum wird dieses Unrecht von der Öffentlichkeit weitgehend ignoriert und warum wird es von der Politik nicht angegangen?

Die gesetzliche Pflegeversicherung

Als vor 1996 die Pflegeversicherung als fünfte Säule der Sozialgesetzgebung erarbeitet wurde, bestand die Chance, eine Situation zu schaffen, die den Bedürfnissen pflegebedürftiger Menschen gerecht wird. Doch das Gesetz zur Pflegeversicherung hat das Gegenteil erreicht. Das Elfte Sozialgesetzbuch hat von Anfang an falsche Anreize gesetzt. Je pflegebedürftiger ein Mensch ist, desto höher sind die gesetzlichen Leistungen. Gekoppelt mit einer weitgehenden Privatisierung der Pflege (Stichwort Pflegemarkt) belohnt und fördert das Gesetz die Pflegebedürftigkeit.

Gute und sinnvolle Pflege hat das Ziel, den Zustand der Pflegebedürftigen zu verbessern und vorhandene Fähigkeiten zu mobilisieren und zu erhalten. Doch das Pflegegesetz verhindert genau das. Eine Verringerung der Pflegebedürftigkeit ist mit wirtschaftlichen Nachteilen für professionell und privat Pflegende verbunden. Geld verdienen kann man nur mit schlechter Pflege. Menschen, die unzureichend gepflegt werden, geht es schlechter und sie erhalten einen höheren Pflegegrad. Das Pflegegesetz wurde seit seiner Einführung 1996 mehrfach reformiert. Die Leistungen wurden schrittweise erweitert und angehoben. Der grundlegende Konstruktionsfehler blieb unangetastet.

Statt struktureller Verbesserungen wurden zunehmend Maßnahmen der Qualitätssicherung eingeführt. Fachkräfte in der Pflege sind inzwischen überwiegend mit Dokumentation und Delegationsaufgaben beschäftigt. Der Einführung dieses Systems liegt ein fundamentaler Denkfehler zugrunde. Man versucht Prinzipien aus der industriellen Produktion auf den Bereich der menschlichen Fürsorge zu übertragen. Es kann nicht funktionieren. Menschen sind keine Werkstücke. In der prozessorientierten Pflege sind Qualitätsmanagement und Dokumentation zu einer Parallelwelt geworden, die von der Realität völlig losgelöst ist. Sie verbraucht immens viel Arbeitszeit und Arbeitskraft, die für die Pflege am Menschen fehlen. Besonders verhängnisvoll wirkt sich aus, dass die Qualität der Pflege weitgehend über die Kontrolle der Dokumentation definiert wird. Was in der Dokumentation eingetragen ist, gilt auch als erbrachte Leistung und wird von der Pflegekasse bezahlt.

Fachkräftemangel als Geschäftskonzept

Es erscheint kaum eine Ausgabe einer Pflegefachzeitschrift, ohne dass der Fachkräftemangel in der Pflege bitter beklagt wird. Tatsächlich ist die Personaldecke in den meisten Pflegeeinrichtungen zu dünn, zu kurz und sehr löcherig. Fachkräfte gibt es wenige, die meisten Arbeiten werden von angelernten Hilfskräften erledigt. Viele von ihnen haben mangelhafte Deutschkenntnisse. Ganz übel sieht es auf den meisten Pflegestationen nachts aus. Dann ist eine Pflegekraft für 50 und mehr pflegebedürftige Menschen verantwortlich.

Fachkräfte kosten Geld. Personal ist der größte Kostenfaktor in der Pflege. Anzahl und Qualifikation der Pflegekräfte stehen im direkten Verhältnis zur Qualität der geleisteten Pflege. Und offenbar im umgekehrten Verhältnis zur erzielbaren Rendite.

Versagen der Kontrollinstanzen

Über die Menschenrechtsverletzungen und Betrügereien in der Pflege und über das Leid der Pflegebedürftigen wurde oft und ausführlich in den Medien berichtet. Ungezählte Fernsehsendungen, Bücher und Radioberichte haben sich mit dem Thema beschäftigt. Es wäre naiv, anzunehmen die Mitarbeitenden der zuständigen Kontrollinstanzen wie medizinischer Dienst der Krankenkassen und der Heimaufsicht wären darüber nicht informiert. Doch das ganze System aus Dokumentation und Qualitätssicherung, Überprüfungen, Beratungen und Bewertungen versagt auf der ganzen Linie. Das System scheint nicht der Transparenz, sondern der Verschleierung zu dienen.

Die Rolle der Pflegekräfte

In der Presse stellt sich die Pflege zumeist in der Opferrolle dar. Doch viele Pflegekräfte sind auch Täter. Durch ihre passive Haltung ermöglichen sie erst den Missbrauch, der mit Ihnen getrieben wird. Mit dem Fälschen der Pflegedokumentationen begehen sie Betrug. Indem sie pflegebedürftige Menschen vernachlässigen, ungerechtfertigt fixieren oder mit Medikamenten ruhigstellen, begehen sie Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Sie verletzen die Menschenwürde und missachten die Menschenrechte. Und sie haben offenbar nichts zu befürchten.

Familienmitglieder, die die Misshandlung und Vernachlässigung ihrer pflegebedürftigen Angehörigen nicht klaglos hinnehmen, werden in vielen Fällen von Heimleitungen mit Hausverboten belegt und als Querulanten bezeichnet. Und dann sind die Pflegebedürftigen ja immer noch im Heim, befinden sich – je nach Standpunkt – in der Obhut oder Gewalt der Pflege. Es ist in vielen Fällen eine Art Geiselhaft. Sie hilft, die Angehörige zum Aufgeben oder zumindest zur Vorsicht bewegen.

Die Pflegekräfte hätten es in der Hand, sich mit den Pflegebedürftigen zu solidarisieren und eine fundamentale Wende in der Pflege herbeizuführen. Sie könnten den ersten Schritt tun, die massiven Menschenrechtsverletzungen zu beenden.

Die Mitschuld

Damit sich ein Unrecht dauerhaft halten kann, müssen einerseits genügend einflussreiche Gruppen davon profitieren. Andererseits müssen möglichst viele Menschen zu Mitschuldigen gemacht werden. Viele Pflegekräfte wurden von diesem Unrechtssystem korrumpiert. Es macht auch vor den Angehörigen nicht halt. Viele von ihnen sind froh, wenn die eigenen Eltern endlich im Heim sind und sie damit alle Verantwortung abgegeben haben. „Soo schlecht ist es dort doch gar nicht…“

Vielleicht ist das ohrenbetäubende Schweigen in der Öffentlichkeit nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass zu viele Angehörige mit der Situation ihrer misshandelten Eltern insgeheim durchaus zufrieden sind.

Ein verhärtetes Problem

Zur Verhärtung des Problems der Menschenrechtssituation älterer pflegebedürftiger Menschen trägt auch dessen Dauer bei. Seit drei Jahrzehnten ist die Situation nicht besser geworden. Man hat gelernt, das Problem zu ignorieren. Auch ist das ungeheuerliche Ausmaß an Unrecht, das ohne erkennbare Konsequenzen für die Täter begangen bleibt, so groß, dass es bislang niemand wagt, das Problem ernsthaft anzugehen.

Der lange und steinige Rechtsweg

Welche Hürden sich auftun, wenn Angehörige oder Pflegebedürftige selbst das Recht auf ein menschenwürdiges Leben trotz Pflegebedürftigkeit juristisch durchsetzen wollen, darüber kann Adelheid von Stösser ein Lied mit vielen Strophen singen. Die erste Vorsitzende der Pflegeethik-Initiative Deutschland e.V. erhält regelmäßig Hilferufe von Menschen, deren Angehörige in die Mühlen des deutschen Pflegesystems geraten sind. Sie berät die Hilfesuchenden, und schreckt auch nicht davor zurück, Strafanzeige gegen die Verantwortlichen zu stellen.

„Pflegebetroffene alte Menschen sind unserem fehlgeleiteten System ausgeliefert. Sie müssen es hinnehmen am Ende ihres Lebens in Heime gesteckt und abgefertigt zu werden. Wer sich aufregt, wird ruhiggestellt. Wir wollen denen eine Stimme geben und beistehen, die sich selbst nicht wehren können.  Denn Menschenrechtsverletzungen kommen überall dort vor, wo diejenigen, die sie begehen, nicht befürchten müssen, zur Verantwortung gezogen zu werden.“, erklärt Frau von Stösser.

Ausweg aus dem Dilemma 

Die Pflegeethik Initiative Deutschland e.V. will die massenhaften Menschenrechtsverletzungen nicht hinnehmen und sucht Unterstützer. Im Februar 2019 hat der Verein eine Rechtsoffensive für Pflegebetroffene ins Leben gerufen.  Das Ziel: pflegebedürftige Menschen vor Entwürdigung, Gewalt und anderem Übel wirksam zu schützen. Beispielsweise indem der Rechtsbeistand verbessert und Musterklagen erwirkt werden.
Außerdem ist eine Engagement-Kampagne über ein Online-Portal geplant, um möglichst viele Menschen zu mobilisieren. Über eine eigens entwickelte Portalseite, www.pflegeethik.zusammenhandeln.org  können sich interessierte Bürgerinnen und Bürger aktiv beteiligen. Die Kampagne wird über Spenden finanziert.

Harald Spies   im  März 2019


 

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