Aufstehen gegen massenhafte Menschenrechtsverletzungen

Beitragsbild: ARTE Sendung vom 14.August 2017

Am 8.August  konnten wir auf ARTE zwei Sendungen zur Pflege sehen, die ich zum Anlass nehme, Abgeordnete und Parteien die derzeit um Wählerstimmen werben, mit der Frage zu konfrontieren, was passieren muss, um  Pflege ins Wahlkampfprogramm aufzunehmen.  Der erste Beitrag  Die Karawane der Pflegerinnen  beleuchtet ein bekanntes Dilemma. Eine  Notlösung,  für die es keine Alternative gibt. Bisherige Pflegereformen ignorieren diesen Versorgungszustand schlichtweg. Den Forderungen nach Verboten und Bestrafungen schließen wir uns nicht an, solange es keine andere Alternative für Betroffene gibt, als das Heim.

Um die Situation in deutschen Pflegeheimen geht es im zweiten Beitrag  Der Pflegeaufstand   – aktuell auf YouTube       In sehr eindrücklicher Weise wird dargelegt, dass der Staat seine Schutzpflicht für pflegebedürftige Menschen vernachlässigt.    Angesichts der Art und Häufigkeit schwerer Rechtsverletzungen im Umgang mit pflegebedürftigen Menschen,  zieht der Rechtswissenschaftler Prof. Alexander Graser folgende Bilanz:

Man kann davon ausgehen, dass das wohl die intensivsten und quantitativ bedeutendsten Menschenrechtsverletzungen gegenwärtig in Deutschland sind.

Diese Einschätzung teilt wohl jeder der als Betroffener, Angehöriger, Pflegekraft  oder in anderer Funktion Zeuge der Abläufe und Praxis wird, wie sie sich hinter den schönen Fassaden, den leeren Versprechungen und den täuschenden Noten zeigen.  Nach unserer Erfahrung sind gute Heime, die Ausnahme.
Die Regel ist, dass beispielsweise nachts nur eine Pflegekraft für 50 hilfebedürftige Menschen eingeplant wird. Ralf Pittroff, einer der Nachtwachen der sich an unseren Verein gewandt hatte, berichtet in der Sendung von dieser unmenschlichen Situation.
Die Regel ist, dass verunsicherte, unruhige und verwirrte alte Menschen, medikamentös angepasst werden. Die Regel ist, dass sturzgefährdete Heimbewohner gegen ihren Willen im Bett, am Stuhl fixiert werden.  Die Ausnahme ist, dass für eine ausreichende Zuwendung gesorgt wird, so dass auf Medikamente und Fixierungen verzichtet werden kann.
Die Regel ist, dass Heime individuelle und fachkompetente Pflege versprechen. Beschwert sich dann jemand, weil er das Gegenteil dessen erlebt, wird ihm geraten, sich ein anderes Heim zu suchen.  Die Ausnahme ist, dass sich Heimaufsicht, Polizei oder Staatsanwaltschaft nicht mit Schutzbehauptungen seitens des Heimes zufrieden geben, sondern ernsthaft ermitteln.

„Es muss vom System aus gesichert werden, dass die Würde des Menschen gewahrt bleibt“, erklärt Dr. Christoph Lindner, einer der Anwälte der nicht hinnehmen kann, dass das Verfassungsgericht die Klage des VdK mit Verweis auf die zahlreich vorhandenen gesetzlichen Regelungen, Länderzuständigkeit etc. abgewiesen hatte.  Demnach gehen die Verfassungsrichter davon aus, dass Rechtsvorschriften selbstverständlich eingehalten werden und falls nicht, der vorgesehene Klageweg ausreichen müsste.   Den Wortlaut der Verfassungsbeschwerden sowie der Begründung der Verfassungsrichter finden Sie auf der Seite der Rechtswissenschaft Uni-Regensburg.

Aus formalen Gründen zurückgewiesen wurde die Verfassungsklage von Armin Rieger, der aus der Sicht des Heimleiters im Grunde Selbstanzeigte betrieb, um die Schwachstellen im System zu zeigen. Sein Buch „Der Pflegeaufstand“ war Anlass für die gleichnamige Sendung.  Noch ist der Aufstand überschaubar, auch weil die Betroffenen selbst nicht auf die Straße gehen können.  Jedoch muss man kein Hellseher sein um einschätzen zu können, wie sich Lage in der Pflege zuspitzen wird.

Wie keine andere Organinsation setzt sich der Pflege-Selbsthilfeverband e.V. für die Wahrung der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen ein. Unsere Initiative müsste es nicht geben, würde der Staat diesen Schutz gewährleisten. Pflegenotstand, Pflegeaufstand und die schrecklichen Bilder und Berichte aus den ‚Abschiebeanstalten‘ die sich Pflegeheim nennen, müsste es auch nicht geben, würde der Staat dafür sorgen, dass die Pflege-Charta, dass Gesetze und Vorschriften in der Praxis beachtet werden.  Im Pflegebereich gibt es nicht zu wenig Gesetze sondern zu viele die nicht beachtet werden. Es ist jedem Heim freigestellt, ob es die Rechte seiner Bewohner beachtet. Wer sie nicht beachtet bekommt trotzdem Bestnoten.

Vordringliche Forderungen an die Politik:

  1. Körpernahe Fixierungen von pflegebedürftigen Menschen generell unter Strafe zu stellen, sowohl in Heimen, als auch in Klinken, Krankenhäusern und häuslicher Pflege.  Fixierungen sind unmenschlich und in keinem Falle zu rechtfertigen. Schon gar nicht mit dem Argument, die persönliche Begleitung nicht gewährleisten zu können.

  2. Den Einsatz von Neuroleptika bei altersverwirrten Menschen zu unterbinden. Erstens sind Neuroleptika für diesen Zweck nicht zugelassen. Zweiten wirken sie in der üblichen Dosierung wie eine innere Zwangsjacke. Sie lähmen den Eigenantrieb, blockieren das Fühlen und Denken und erzeugen je nach Dauer und Dosis die schlimmen Zustandsbilder in den Endstadien der Demenz. Sie entstellen den Menschen an Körper, Seele und Geist.

  3. Schutz vor Willkür und Fremdbestimmung. Besonders gefährdet sind Menschen mit Demenz, denn alleine diese Diagnose wird zumeist so ausgelegt, dass Willensbekundungen und Beschwerden nicht erst genommen werden brauchen. Vor allem Berufsbetreuer verfügen oft eigenmächtig die Unterbringung im Heim. Hinter dem Rücken des Betreuten und der Familie wird die Wohnung aufgelöst, das Haus verkauft, die Behandlung mit dem Arzt besprochen. Angehörige die sich darüber beschweren, erhalten Besuchsverbot.

  4. Die Beachtung bestehender Gesetze sicher stellen und die Pflege-Charta zum verbindlichen  Qualitätsmaßstab erklären. 
    An Gesetzen mangelt es nicht.  Jedoch was nützen diese, wenn es nicht sichergestellt wird, dass sie auch beachtet werden.   Würden sich alle an Recht und Gesetz halten, gäbe es die fürchterlichen Erfahrungen nicht, mit denen sich verzweifelte Angehörige an unseren Verein wenden. Aktuell muss sich niemand verpflichtet sehen, die in der Pflege-Charta definierten „Rechte“ zu beachten.   Selbst bei nachweislich grober Verletzung der Grundrechte muss keine Strafe befürchtet werden.   Das System schützt die Einrichtungen.  Der Pflegebedürftige ist abhängig, ausgeliefert  und  selten in der Lage seine Rechte einzuklagen.

Wir erinnern daran, dass es sich um unsere alten Großeltern oder Eltern handelt, die heute in Pflegeeinrichtungen meist gegen ihren Willen untergebracht sind. Denen der Stempel Demenz aufgedrückt wird. Die nicht ernst genommen werden, weil alles was ein Mensch mit dieser Diagnose von sich gibt, als Einbildung oder Ausdruck der Verwirrung gedeutet werden kann.    Die ungefragt ruhiggestellt, festgebunden und weggeschlossen werden, wenn sie zu fliehen versuchen.   Es handelt sich um die Kriegskinder-Generation, die in einer Welt voller Angst, Unsicherheit und Not aufgewachsen ist.  Um unsere direkten Vorfahren, die nach dem Krieg die Trümmer weggeräumt und die Basis für unseren heutigen Wohlstand gelegt haben.   Nun, da sie am Ende mit ihrer Kraft sind, in dieser Phase, wo sie dringend Solidarität brauchten und Menschen die sich Zeit nehmen, erleben sie ein durch-getaktetes System, das Pflegekräfte hervorbringt, die es normal finden die Alten im Schnellverfahren abzufertigen. Wer das nicht mitmachen kann und kein besseres Heim findet,  steigt nach kurzer Zeit aus dem Beruf gleich ganz wieder aus.

Die Probleme in der Pflege sind komplett selbst gemacht. Und sie könnten zusammenhängend gelöst werden, mit einer an den Ursachen ansetzenden Reform des  Pflegesystems.  Dazu brauchte es m.E. nicht einmal einer Bürgerversicherung oder mehr Geld im System. Schon heute fließt viel zu viel Geld in die falschen Kanäle. Wenn noch mehr Geld hinterhergeschossen würde, käme das wiederum hauptsächlich denen zu Gute, die wissen wie man aus der Not anderer Kapital schlagen kann.

Das gesamte Gesundheits- und Pflegesystem ist derart verfahren, unübersichtlich und widersprüchlich – dass man sich nicht wundern muss, wenn gutgemeinte Verbesserungen am Ende zur Verschlimmerung führen.   Aktuell haben wir ein System, das die belohnt, die den Kranken kränker und den Pflegebedürftigen bedürftiger machen.  Persönlich bin ich überzeugt, dass die Pflegebedürftigkeitsrate halbiert werden kann, würden gewünschte Behandlungs- und Pflegeergebnisse vorzüglich honoriert, hingegen bei Verschlechterung durch die Behandlung oder Pflege, die Kostenübernahme in Frage gestellt.  Vor allem alte Menschen, die mit diversen Wehwehchen häufig zum Arzt gehen, brauchen Ärzte, die sich ihrer Probleme annehmen und nicht lediglich gegen alles und jedes ein Medikament verschreiben. Was da zusammen kommt, auch an Nebenwirkungen, bildet den Nährboden auf dem Pflegebedürftigkeit wächst und gedeiht.

Vor diesem Hintergrund müsste Pflege eigentlich für alle Parteien ein zentrales Thema sein. Wir dürfen es nicht zulassen, dass unsere hilfebedürftig gewordenen, alten Eltern und Großeltern in der heute häufig erlebten Weise abgefertigt und entwürdigt werden. Wir dürfen hier nicht wegschauen und so tun, als seien die Pflegenoten ein Beweis für gute Pflege.

An erster Stelle brauchen die Pflegebedürftigen unsere Solidarität!

Im Schulterschluss mit den Berufsstandesvertretern  bemüht sich sich die Politik vor allem um die Zufriedenheit der Pflegekräfte und das Ansehen der Pflegeberufe.
So als würde bessere Bezahlung automatisch den Zulauf und die Verweildauer in der Pflege vergrößern. Auch Personalaufstockung garantiert nur dann bessere Pflege, wenn die dadurch gewonnene Zeit tatsächlich den Bewohnern zu Gute kommt.  Vor allem fehlt es den Heimbetreibern und auf Leitungsebene an der richtigen Einstellung.  Hier müssten andere Maßstäbe gesetzt und durchgesetzt werden.  Für viele sind Personal und Bewohner lediglich Mittel zum Zweck.  Nicht selten fehlt es an sozialer und fachlicher Kompetenz. Denn Heimleiter kann schließlich jeder werden der sich das irgendwie zutraut oder einen Heimbetreiber findet, der ihm das zutraut.

Wer sich für die Ausbildung im Pflegeberuf entscheidet, kennt die Verdienstmöglichkeiten und Arbeitszeiten. In anderen Ausbildungsberufen sind die Gehälter auch nicht besser.  Das Jammern über  schlechte Bezahlung und die Arbeitszeiten ist symptomatisch für schleches Arbeitsklima, schlechte Organisation und fehlende Wertschätzung.  Die Mitarbeiter fühlen sich ausgenützt, wenn sie erleben, dass ihr Arbeitgeber kein wirkliches Interesse an einer guten Pflege hat und auf ihrem Rücken  Gewinne zu machen versucht. Hier liegt der Kern der Unzufriedenheit mit der Bezahlung.

In Deutschland mangelt es vor allem an verantwortungsbewussten Pflegekräften, mit einer Haltung wie sie Herr Pittroff im genannten Film zeigt. Ich selbst habe miterlebt, wie er 2014, gemeinsam mit Sabine Bätz  dem Geschäftsführer deutlich machte, dass die Personalreduzierung unverantwortlich ist und er unter diesen Bedingungen nicht arbeiten wird.  Fünf von sieben Nachtwachen nahmen hingegen die Arbeitsstelle wichtiger als die Sicherheit der Bewohner. In diesem Verhältnis dürfte sich das Verantwortungsbewusstsein bundesweit spiegeln. Die meisten jammern hinter vorgehaltener Hand. Den meisten ist es wichtiger die Erwartungen des Arbeitgebers zu erfüllen. Die meisten rufen nach dem Arzt, damit dieser dem „nervigen“ Bewohner etwas verschreibt, weil  keiner Zeit hat sich um ihn zu kümmern. Die meisten zeichnen Maßnahmen als erledigt ab, die aus Zeitmangel nicht erledigt wurden. Sie sind stolz auf die gute Pflegenote, die dem Heim als Lohn für diesen Betrug verliehen wird.

Deutschland braucht einen Richtungswechsel in der Pflegepolitik.

Während die Standesvertreter der beruflichen Pflege, die Lösung ihrer Probleme in der Einrichtung einer Pflegekammer und einer generalistischen Pflegeausbildung sehen, fordert der Arbeitgeberverband Pflege ein eigenes Ministerium für Altenpflege.
Bei all diesen Forderungen kann festgestellt werden, dass es in erster Linie um die eigenen Interessen geht. Es geht darum, den Status des Berufsstandes zu verbessern und den Einfluss auf die Politik zu vergrößern.  Diejenigen, die an und mit Pflege verdienen, wollen  mehr vom wachsenden Kuchen.  Ein Richtungswechsel oder bessere Pflege ist jedenfalls nicht das Thema. Denn die Pflege ist schließlich sehr gut (Durchschnittsnote 1,2). Leistungsanbieter und  Pflegeverbände stellen sich ja selbst kein schlechtes Zeugnis aus. Offen gibt doch keiner zu, dass im eigenen Haus Bewohner vernachlässigt und abgefertigt werden.

Die Argumentation in diesen Reihen  verläuft seit 40 Jahren immer im gleichen Tenor: „Momentan ist die Pflege gut – wenn wir jedoch an die Zukunft denken… Deshalb fordern wir vorsorglich…“   In der Politik lässt sich dieses Verständnis durchgehend ebenfalls beobachten, etwa in Sätzen wie: „…damit gute Pflege gesichert bleibt“

Machen wir uns nichts vor. Angesichts dieser Haltung sind die Aussichten denkbar schlecht, in absehbarer Zeit einen wirklichen Richtungswechsel zu erleben. Die Politik bedient das System. Und immer stehen andere wichtige Themen auf der Agenda. In Sachen Pflege hat diese Regierung  weiteres Geld flüssig gemacht und einiges auf den Weg gebracht.  Das muss dann erst einmal reichen, dürften sich wohl die meisten Abgeordneten des deutschen Bundestages sagen.

Auch wenn meine Bemühungen geradezu aussichtslos erscheinen, angesichts der beschriebenen Haltung, sehe ich keinen anderen Weg, als an das Gewissen und die Verantwortung unserer Volksvertreter*innen zu appellieren. Eigentlich sollten wir in Deutschland aus der Geschichte gelernt haben, wo es enden kann, wenn man seine Augen verschließt vor dem was anderen angetan wird.

Adelheid von Stösser, Vorsitzende des Pflege-Selbsthilfeverband e.V.  im August 2017


Anfrage an Politik im Wahljahr 2017
– als PDF

1 Kommentar

  1. Andreas Bik aus Essen schreibt: Dieses Plädoyer für die Pflegebedürftigen bleibt hoffentlich nicht ungehört bei der Politik. Aber auch hier ist es sicher so, dass hinter vorgehaltener Hand der ein oder andere Politiker die aufgezeigten Missstände anerkennt, aber sich nicht in der Lage sieht, diese zu verändern. Also gibt es auch keine offizielle Position und es verbleibt bei den bekannten Beschönigungen – ansonsten müsste man ja auch gleichzeitig sein Unvermögen zur Änderung eingestehen. Das ist schon wirklich ein Dilemma. So wird dann vermutlich politischerseits wieder nur an Details gefeilt und von der wirklichen Problematik abgelenkt. Sicher ist es korrekt, dass durch das PSG II zusätzliches Geld ins System gekommen ist. Aber dieses zusätzliche Geld ändert an den Grundübeln des Systems leider nichts. Und was das in Aussicht gestellte, neue Qualitätsprüfungsverfahren betrifft,fürchte ich, dass damit wieder nur vorgegebene Kriterien geprüft werden. Logischerweise kann dann als Ergebnis nur das herauskommen, was geprüft wurde. Und das hat vermutlich mit der Pflegequalität, wie sie Heimbewohner und Angehörige definieren würden, wenig gemein. Angesichts der demographischen Verschiebungen, mit immer mehr Pflegebedürftigen und immer weniger Menschen die dieses Bedürfnis erfüllen, gleicht das Ganze der Quadratur des Kreises. Mein Fazit: keine guten Aussichten!

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