Was mich schockiert – Beispiel Mainz

Wir alle wissen es: Viele ältere Patientinnen und Patienten kommen nicht nur mit einer akuten Erkrankung ins Krankenhaus, sondern auch mit ihrer Demenz. Betroffen sind vor allem die Inneren Abteilungen (z.B. Herzerkrankungen) oder die Unfallchirurgie (z.B. wegen Stürzen) Dementiell erkrankte Personen passen aber nicht in den Arbeitsalltag von Krankenhäusern. Sie „stören“ das medizinische und pflegerische Personal ebenso wie ihre Mitpatientinnen und –patienten. Sie bringen die Diagnostik, die Therapie und den Krankenhausalltag „durcheinander“. Müssen sich die Patientinnen und Patienten dem Krankenhausalltag anpassen? Oder müsste es nicht umgekehrt sein? Diesen Fragen stellen sich inzwischen Fachtage, wie jüngst in Nordrhein-Westfalen. Es mag inzwischen gute Beispiele für einen menschenwürdigen Umgang mit dementen Patientinnen und Patienten in Krankenhäusern geben, der Alltag ist das jedoch leider noch nicht.

Bericht vom Klinikaufenthalt, Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Meine dementiell erkrankte Tante, eine bis dahin lebenslustige und mobile alte Dame (siehe Foto), wurde nach einem Sturz aus dem Bett mit Verdacht auf Schlaganfall in die Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie eingeliefert. Die Diagnose war schnell gestellt – nur „Gehirnerschütterung“ und Beschwerden im Rücken. Dennoch begann ab der Einlieferung in die Klinik eine systematische De-Aktivierung. Abgesehen von einem Bettgitter wurde ihr als erstes ein Katheter gelegt, weil offenbar keine Zeit war, sie bei Toilettengängen zu begleiten. Außerdem wurde  eine Windel angelegt, die sie vorher nicht gebraucht hatte.    Die Klingel konnte sie nicht mehr bedienen, ihr Rufen wurde nicht „er“hört. Bei unseren Besuchen konnten wir feststellen, dass meine Tante durchaus noch das Bedürfnis nach einer Toilette äußerte. Einfach ins Bett zu machen, war ihr nicht nachvollziehbar und außerdem total peinlich. Leider lag im selben Zimmer keine Person, die dem Pflegepersonal die Bedürfnisse meiner Tante hätte vermitteln können. Im Gegenteil: Die Mitpatientin war ebenfalls dement. Sie stöhnte in einem fort über extreme Schmerzen und rief jämmerlich nach Hilfe, da sie unoperiert im Bett lag.

Als wir zum ersten Mal das Zimmer betraten, riefen beide Patientinnen verzweifelt um Hilfe. Die Mitpatientin lag nackt im Bett, das Nachthemd um den Kopf geschlungen – ein Zeichen, dass sie schon lange immens um Hilfe kämpfte – doch niemand kümmerte sich um sie. Meine Tante war schweißnass und zitterte am ganzen Körper. Beide desorientierte Patientinnen wussten nicht, wo sie waren und was mit ihnen geschah. Die nicht endenden Hilferufe der Mitpatientin „Wo bin ich hier? So helfen sie mir doch! Was passiert hier mit mir? Aua, aua, aua, ich habe so schlimme Schmerzen! Was machen sie hier mit mir? Lassen sie mich hieraus! Hilfe, Hilfe, Hilfe“, müssen bei meiner Tante Erinnerungen an die Kriegszeit hervorgerufen haben, von der sie immer wieder – Flucht und Vertreibung – erzählt. Alleine unser erster einstündiger Aufenthalt im Zimmer kam uns wie Folter vor.
Wir baten darum, meine Tante in ein anderes Zimmer zu verlegen, damit sie bei aller Not und Fremdheit hätte zur Ruhe kommen können. Ein Zimmerwechsel war für uns mit der Hoffnung verbunden, dass dort ggf. jemand lag, der in Notsituationen das Pflegepersonal hätte verständigen können. Diese Bitte wurde abgelehnt, obwohl in zwei Zimmern jeweils nur eine
Patientin lag.
Zwei Tage später mussten wir feststellen, dass meine Tante als nächsten Akt der DeAktivierung eine Infusion gelegt bekommen hatte – offenbar war keine Zeit, dass jemand ihr Getränke reichte. Außerdem hatte man sie angegurtet, da sie sehr unruhig war. Keine dieser – 2 – Maßnahmen, selbst die freiheitsentziehenden nicht, wurden bis zu diesem Zeitpunkt mit mir als gerichtlich bestelltem Betreuer besprochen. Auf meine Aufforderung, meine Tante sofort in ein anderes Zimmer zu legen, weil die Mitpatientin auch nach deren Operation noch immer ständig um Hilfe rief und meine Tante nicht zur Ruhe kam, erklärte mir eine Stationsschwester, sie könne sie doch nicht mit „normalen“ Patientinnen zusammenlegen. Das zeigt eine erschreckende Unkenntnis über DemenzErkrankungen und die Bedürfnisse dieser Menschen. Wer in Kategorien wie „normal“ und, so der Folgeschluss, „unnormal“ denkt, ist für die Versorgung demenzkranker Patientinnen und Patienten nicht ausreichend ausgebildet.
Auch der herbeigerufene Stationsarzt war nicht bereit, mit mir über die Situation meiner Tante zu sprechen. Stattdessen beschwerte er sich darüber, dass ich ihm mit meinem „kleinen Horizont“ seine Zeit stehle. Der pflegerische Zustand meiner Tante sei ihm „scheißegal“ sei, was er auch vor jeder Kamera dieser Welt wiederholen würde. Über die medizinische Situation meiner Tante habe ich gar nichts erfahren. Einmal abgesehen
von den persönlichen Unverschämtheiten dieses Stationsarztes zeigt auch sein Verhalten, dass zumindest die Klinik und Poliklinik für Unfallchirurgie nicht auf die Behandlung dementiell erkrankter Personen eingestellt ist.
Der Alltagsstress in einem Krankenhaus kann nicht als Entschuldigung für solch ein Verhalten angeführt werden. Es ist das Denken, das verändert werden muss, wenn die Versorgung von Patientinnen und Patienten mit dementieller Erkrankung menschenwürdig werden soll. Erst am fünften Tag des Krankenhausaufenthaltes konnte eine zufrieden stellende Lösung gefunden werden und das auch nur mit „Vitamin B“. Durch mein Einschalten des Verwaltungsdirektors der Klinik, mit dem ich vorher beruflich mehrfach in Kontakt stand, hat sich die Situation fundamental verbessert. Meine Tante wurde verlegt, die ergriffenen freiheitsentziehenden Maßnahmen wurden nur noch in der Nacht angewandt und sie wurde wieder aktiviert, u.a. durch eine Krankengymnastik. Alle Maßnahmen wurden von einem Oberarzt der Klinik mit mir abgestimmt. Nach zwei weiteren Tagen Krankenhausaufenthalt wurde meine Tante entlassen.
Diese Erlebnisse in der Klinik waren und sind für die weitere Lebenszeit meiner Tante prägend. Sie kam in die ambulant betreute Wohngemeinschaft, in der sie seit fast zwei Jahren lebte, schwer traumatisiert zurück. Die Betreuungskräfte konnten ihre Unruhe zunächst kaum auffangen. Erst bei der Rückkehr in die WG wurde festgestellt, dass man in der Klinik alle Medikamente, mit denen meine Tante seit Jahren lebte, abgesetzt hatte. Die fortwährenden Schwitzattacken im Krankenhaus kamen also offenbar nicht nur von den Angstzuständen durch die kriegsähnlichen Hilferufe, sondern vermutlich auch durch den Medikamentenentzug und die
damit ausgelösten körperlichen Reaktionen.

In der Wohngemeinschaft baute meine Tante innerhalb der ersten Woche trotz intensiver Betreuung körperlich von Tag zu Tag mehr ab und konnte nach zwei Wochen das Bett nicht mehr verlassen. Inzwischen wird ständig gelagert und über Infusionen mit Flüssigkeit versorgt. Was ist denjenigen, die niemanden mehr haben, die sich um sie kümmern können? Und mit denjenigen, deren Angehörige sich nicht trauen, den „Halbgöttern in Weiß“ Paroli zu bieten? Sie sind Ärztinnen und Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern ausgesetzt, die nicht in der Lage – und auch willens? – sind, ihre Bedürfnisse zu erkennen und sie menschenwürdig zu behandeln.
Und was passiert, wenn man sich hilfesuchend an die Politik und die Kammern wendet? Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wirbt auf seiner Homepage mit der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen. Artikel 4 besagt: „Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht auf eine an seinem persönlichen Bedarf ausgerichtete, gesundheitsfördernde und qualifizierte Pflege, Betreuung und
Behandlung.“

Doch wie reagiert die Politik darauf, wenn man von dem Einzelfall ausgehend allgemein Verbesserungen einfordert? Kurz gesagt: Abweisend und unkonkret. Da ich seit über zehn – 3 – Jahren in der rheinland-pfälzischen Ministerialverwaltung verankert bin und die handelnden Personen kenne, hätte ich mir zuvor nicht vorstellen können, welche Gummiwände aufgestellt werden, von denen man abprallt. Angeschrieben habe ich mehrere: vier Aufsichtsratsmitglieder des Universitäts-Klinikums – eine Ministerin, zwei Staatssekretäre und einen ver.di-Vertreter. Immerhin haben die Ministerin und eine Staatssekretärin geantwortet, man wolle sich für eine Verbesserung der Versorgung dementer Patientinnen und Patienten einsetzen. Doch – trotz meines ausdrücklichen Wunsches – wurde mir ein persönliches Gespräch mit der Aufsichtsratsvorsitzenden verweigert.

Die Krönung war die Antwort des Bundespatientenbeauftragten. Dieser ließ mir durch eine Mitarbeiterin einen vierseitigen Antwortbrief mit diversen Satzbausteinen zukommen. Man verwies mich gar auf die Kassenärztliche Vereinigung in Baden-Württemberg und die Landesärztekammer dort, obwohl meine Tante und auch ich in Rheinland-Pfalz leben und auch der Krankenhausaufenthalt  dort stattfand.
Und die Ärztekammer? Sie distanziert sich zwar vorsichtig von dem Verhalten des Arztes, sieht sich jedoch nicht in der Lage, eine abschließende Stellungnahme abzugeben, weil die Situation einerseits von mir und andererseits von dem Arzt geschildert wurde und dies „doch sehr unterschiedlich“ erfolgt sei. Na klar – gab der Arzt mir bereits in unserem Zusammentreffen zu verstehen, dass er ja Zeugen für unsere Auseinandersetzung habe – die Pflegekräfte – und ich keine.

 

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