„Das Denken muss sich ändern“ – Beispiel Koblenz

Wenige Wochen nach den Erfahrungen mit der chirurgischen Klinik in Mainz, werden Herr Lohest und seine Frau erneut mit dem fehlenden Verständnis für Demenzkranke konfrontiert. Hier sein zweiter Bericht vom Januar 2012:
„Wieder einmal sind wir auf einer unfallchirurgischen Station. Meine Frau war gestürzt und lag für eine Woche dort. Bereits kurz nach der Ankunft stellte sie fest, dass im Zimmer gegenüber eine ältere Patientin lag, die häufig „Hallo, hallo“ rief und bei der Versorgung durch Pflegekräfte lauthals nach ihrer Mutter rief oder mit den Worten „fassen Sie mich nicht an, was machen Sie nur mit mir“ in Panik ausbrach. Meine Frau sprach das Pflegepersonal auf die Patientin und ein eventuelles dementielles Krankheitsbild an. Die Antwort war, es gäbe halt eben schon mal gewisse Schwierigkeiten mit Patienten. Nichts Ernstes. Erst auf Nachfragen bei einem anderen Pfleger wurde die Nachfrage nach dem Krankheitsbild bestätigt. Ein Angebot meiner Frau, sich tagsüber mit der Patientin befassen zu wollen, wurde ignoriert. Wenn meine Frau über den Flur ging, wurde häufig die Tür der Patientin geschlossen. Die ständigen Hallo-Rufe ebbten nicht ab. Der Stationsarzt amüsierte sich über dieses Verhalten mit dem Kommentar „das heißt nicht `Hallo´, das heißt `Halla´ – gefolgt von allgemeinem Gelächter aller anwesenden Pflegekräfte.

Die Folgen diesen Denkens von oben zeigen sich sehr schnell: Niemand denkt an die Bedürfnisse dieser Frau. Meine Frau ließ nicht locker. Sie fragte beim Pflegepersonal, ob es denn keine grünen Damen gäbe, die sich etwas mehr um die alte Damen kümmern könnten. Die Antwort des Pflegers: So was gibt es bei uns nicht. Misteriöserweise standen drei Tage später zwei grüne Damen am Krankenbett meiner Frau und fragten, ob sie Wünsche oder Gesprächsbedarf habe. Sie wussten nichts von der dementiellen Patientin zwei Zimmer weiter. Das Pflegepersonal hatte sie erst gar nicht darauf aufmerksam gemacht .

Auch die alte Dame wollte mit ihrem Hallo mehrfach darauf aufmerksam machen, dass sie zur Toilette muss. Ihre Beschämtheit, sie könne in die Windel machen, wurde ignoriert. Schlimm war auch die Feststellung, dass die demente Dame „zur Aktivierung“ mit einem dünnen kurzärmeligen Nachthemd Stunden in einem Rollstuhl saß, der zwischen undichten Fenstern und offener Tür stand – mitten im Durchzug. Auch hier wurde das häufige Hallo der Frau – wie regelmäßig – ignoriert. Dankbar nahm sie die wärmende Bettdecke an, die meine Frau um sie schlang. Ebenso dankbar war sie für eine fünfminütige Nachfrage nach ihrer Herkunft und früheren Zeiten. Irgendwann machte die alte Dame im Rollstuhl schlapp. Sie war – 4 – völlig erschöpft. .Hinweise meiner Frau an das Pflegepersonal wurden empört zurückgewiesen. Sie solle sich gefälligst nicht um die Arbeit der Pflegerinnen und Pfleger kümmern, man wisse schon, was man tue.

Das Denken muss sich ändern!

Soweit zwei aktuelle Beschreibungen vom Umgang mit dementiell erkrankten Menschen in Krankenhäusern, die sich so innerhalb weniger Wochen in zwei Kliniken in Deutschland abgespielt haben. Ich bin sicher: Das sind nicht die einzigen Vorfälle. Zu befürchten ist vielmehr, dass ich den Alltag und nicht die Ausnahme beschrieben habe. Weiß man wirklich nicht, dass man durch solch ein Handeln die Menschenwürde verletzt?! Muss das erst von Strafverfolgungsbehörden amtlich festgestellt werden? Oder wird endlich klar, dass es so nicht weitergeht in deutschen Kliniken. Es geht mir nicht darum, die beiden Kliniken an den Pranger zu stellen. Es geht mir darum,
dass die Verantwortlichen in Medizin, Pflegeberufen, Politik, bei Krankenhausträgern, in der Gesellschaft endlich etwas tun, um diese Missstände zu beheben. Die Würde des Menschen ist untastbar. Das muss auch gerade auch für Menschen gelten, die sich nicht selbst helfen können, weil sie beispielsweise für dementiell erkrankt sind. Notwendig ist, dass sich das Denken und die Haltung ändern. Ärzte, die sich über solche Patientinnen und Patienten
belustigen, müssen ins Abseits gestellt werden – gesellschaftlich und beruflich. Ärzte, denen das Schicksal dieser Patientinnen und Patienten „scheißegal“ ist, gehören nicht in Kliniken.

Es geht um die Würde der heute Älteren. Es sind diejenigen, die diese Republik aufgebaut haben. Die durch ihre Arbeit und ihre Steuern, den Ärztinnen und Ärzten von heute erst deren Studium ermöglicht haben. Und es geht um uns alle, die wir (noch) nicht dement sind: Jede und jeder von uns kann bald in solch eine Situation kommen. Wer aktiv mitarbeiten will, dass Demenz und Krankenhäuser nicht dauerhaft zwei Begriffe sind, die nicht miteinander kompatibel sind, ist herzlich dazu eingeladen.
Unterstützen Sie diese Kampagne des Pflege-Selbsthilfeverband, www.pflege-shv.de.  Wir suchen engagierte Mitstreiterinnen und –streiter, vor allem in den Krankenhäusern. “

Herr Lohest, Autor dieses Berichtes, war von 2003 bis 2011 Abteilungsleiter Soziales, im
Sozialministerium Rheinland-Pfalz und dabei auch bis 2010 für die Pflegepolitik verantwortlich.
Seit Mai 2011 ist er Abteilungsleiter Familie, im neu gegründeten rheinland-pfälzischen Ministerium für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen.

1 Kommentar

  1. Über direkte ähnlich Erfahrungen kann ich nicht berichten, aber ich habe solche Erfahrungen von Freunden gehört. Ein Klinikarzt hat z.B. zu seinem Kollegen gesagt, er sei für die medizinischen Sachen zuständig, die menschlichen gingen ihn nichts an. Insoweit stimme ich mit dem Bericht überein. Allerdings ist das Argument, die ältere Generation habe diese Republik aufgebaut und den Ärztinnen und Ärzten von heute erst deren Studium ermöglicht, ist mir zu primitiv. Es wäre schlimm, wenn sie es nicht getan hätte. Genauso müssen wir alle an dieser Gesellschaft weiter arbeiten, um unseren Kindern eine Zukunft zu geben. Die Menschenwürde ist nicht an die Leistung eines Menschen geknüpft. Sonst würden wir nur der Leistungsgesellschaft dienen – und grade das wollen wir mit dieser Aktion doch nicht! Ob Baby, Arbeitsloser, Arzt oder Greis – sie alle haben einen menschenwürdigen Umgang verdient.
    Eine Veränderung erreichen wir nur, wenn wir die Menschen zum Nachdenken anstoßen. Das wiederum sollte in gegeseitigem Respekt geschehen und nicht von oben herab. Das ist nicht einfach mit solchen Erfahrungen, aber es ist für mich der einzige Weg.
    Ich wünsche der Aktion, dass ihr Erfolg nicht in der Anklage sondern im Dialog besteht!
    Wilfried Leusing

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